BFH zur Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (BFH-Urteil vom 14.05.2025 – VI R 14/22)
Der Bundesfinanzhof hat sich mit der Frage beschäftigt, auf wessen Wissen es im Rahmen der „Kenntnis“ nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ankommt.
Hintergrund
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung unzulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt für die Einkommensteuer gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre. Sie verlängert sich auf zehn Jahre, wenn eine Steuer hinterzogen wurde, und auf fünf Jahre, soweit eine Steuer leichtfertig verkürzt worden ist (§169 Abs. 2 S. 2 AO).
Gemäß § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist eine Steuererklärung einzureichen, beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Sachverhalt
Im zugrunde liegenden Fall wurden zusammenveranlagte Eheleute bis einschließlich 2008 als Antragsveranlagung geführt, weil lediglich der Ehemann Arbeitslohn erzielte. In den Streitjahren 2009 und 2010 bezog auch die Ehefrau Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (Steuerklassen III/V). Der Fall blieb beim Finanzamt dennoch als Antragsveranlagung gespeichert. Zwar waren die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen der Finanzverwaltung systemseitig zugeordnet, jedoch gaben die Eheleute keine Steuererklärungen ab, und wurde vom Finanzamt auch nicht hierzu aufgefordert. Im Jahr 2018 stellte das Finanzamt das Vorliegen einer Pflichtveranlagung fest und erließ Schätzungsbescheide für die Jahre 2009 und 2010. Die Eheleute beriefen sich auf eingetretene Festsetzungsverjährung, während das Finanzamt eine verlängerte Festsetzungsfrist wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen annahm. Hiergegen reichten die Eheleute Klage beim Finanzgericht Münster ein.
Rechtsprechung
Das Finanzgericht als erste Instanz gab der Klage zunächst statt. Nach seiner Auffassung war der objektive Tatbestand der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt, weil dem zuständigen Bearbeiter die für die Veranlagung erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das Finanzamt habe daher im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen Umständen gehabt.
Der Bundesfinanzhof hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurück. Es stellte fest, dass die Kläger für die streitgegenständlichen Jahre zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet waren, sodass die reguläre Festsetzungsfrist am 31. Dezember 2016 bzw. am 31.Dezember 2017 ablief. Für die Beurteilung der „Kenntnis“ im Sinne des §370 Abs. 1 Nr. 2 AO komme es auf die Person an, die für die Bearbeitung des konkreten Steuerfalls berufen ist oder den Steuerbescheid erlässt. Der Finanzbehörde sei der gesamte Inhalt der zu dem Fall geführten Papierakten und der elektronischen Akten als bekannt zuzurechnen.
Nicht als bekannt gälten hingegen jene elektronischen Daten, die nicht automatisch zur Papierakte oder elektronischen Akte übernommen werden, sondern lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde bereitliegen. Dies gilt auch dann, wenn die Daten, wie im Streitfall, mit der Steuernummer verknüpft sind. Der BFH stützt diese restriktive Zurechnung auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 1 StGB. Nach den bindenden Feststellungen blieb der Steuerfall der Kläger als Antragsveranlagung gespeichert, die elektronischen Lohnsteuerdaten waren zwar der Steuernummer zugeordnet, aber nur über eine Übersicht abrufbar und nicht automatisch in die (elektronische) Fallakte übernommen. Angesichts dessen bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung, den Datenspeicher einzusehen. Kenntnis von dem steuerrelevanten Sachverhalt erlangte der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang 2018 durch die von der Oberfinanzdirektion übersandte eDaten-Prüfliste.
Das Finanzgericht der ersten Instanz sei demnach zu Unrecht davon ausgegangen, dass das Finanzamt Kenntnis gehabt habe und somit die Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist nach §169 Abs. 2 S. 2 i.V.m. §§370, 378 Abs. 1 AO nicht in Betracht komme. Das Finanzgericht hat nun im zweiten Rechtsgang Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des §370 Abs. 1 Nr. 2 AO zu treffen.
Abschließend zeigt die Entscheidung, dass es für die Kenntniszurechnung insbesondere auf den aktenrelevanten Informationsstand der zuständigen Bearbeitungseinheit ankommt. Unsere Steuerberater und Fachanwälte für das Steuerrecht beraten und unterstützen Sie gern bei der Beurteilung von Kenntnis- und Verjährungsfragen im Steuerrecht.